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Helen Buchholtz

Helen Buchholtz (1877–1953)

Charlotte Helena Buchholtz kam am 24. November 1877 in der kleinen Stadt Esch/Alzette im Süden Luxemburgs zur Welt. Ihr Vater, Daniel Buchholtz, war Eisenwaren-, Haushaltsartikel- und Baumaterialienhändler sowie Gründer der erfolgreichen Brauerei Buchholtz. Über Buchholtz’ frühe Musikausbildung ist wenig bekannt. Ihr Neffe François Ettinger weiß zu berichten, dass sie sich seit ihrer Kindheit für Musik, Literatur und Kunst (sie malte auch) interessierte und Unterricht in Klavier, Violine, Solfeggio und Tonsatz erhielt.
Das Escher wie auch das Luxemburger Musikkonservatorium existierten damals noch nicht. Privatunterricht oder Unterricht in einem Musik- oder Chorverein stellten daher die einzigen Möglichkeiten dar, sich musikalisch zu bilden. Natürlich waren Vereine, die zu jener Zeit jungen Mädchen und Frauen offenstanden, rar. Die stark militärmusikalisch geprägten Fanfaren oder Harmonieorchester, von denen es in Luxemburg viele gab, nahmen bis weit ins 20. Jahrhundert hinein nur Männer auf. Demgegenüber öffneten sich im 19. Jahrhundert die Chöre, die bis zu diesem Zeitpunkt ebenso ausschließlich aus Männern bestanden, allmählich für Sängerinnen: Der 1815 gegründete Cäcilienverein der St. Joseph-Pfarrei in Esch/Alzette besaß spätestens seit den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts einen gemischten Chor und fungierte auch als musikalische Ausbildungsstätte. Dass Helen Buchholtz‘ Musiktalent von ihrer Familie gefördert wurde, steht außer Zweifel. Ihr Vater und ihr Onkel gehörten zu den am Orte bekannten Musik-Dilettanten“, so der Lokalhistoriker Jean-Pierre Theisen in seinen Beiträgen zur Geschichte Esch an der Alzette (1937). Die Brüder waren eng befreundet mit Felix Krein (1831–1888), dem damals prominentesten Musiker Eschs, der möglicherweise der erste Musiklehrer des jungen Mädchens war.
Wie es damals in aristokratischen und bürgerlichen luxemburgischen Familien zum guten Ton gehörte, besuchte Helen Buchholtz, wie auch ihre Schwestern, nach ein paar Jahren Primarschulunterricht in ihrer Heimatstadt eine Zeit lang ein Mädchenpensionat in Frankreich, in Longwy: das Pensionnat des Mesdames Métro-Bastien. In den Lehrplänen der Mädchenpensionate des 19. Jahrhunderts wurde auf die musikalische Ausbildung Wert gelegt, sie durfte allerdings den ‚weiblichen‘ Rahmen nicht überschreiten und sollte lediglich der Unterhaltung und Entspannung dienen. Nach der Rückkehr aus Longwy lebte Helen Buchholtz in ihrem Elternhaus, wo sie ihre Zeit mit Musizieren verbrachte und auch zur Komposition fand. Im Zuge der Industrialisierung und des rasanten Bevölkerungszuwachses – zwischen 1870 und 1913 stieg die Einwohnerzahl von 2.000 auf 24.000 – blühte das kulturelle Leben in Esch zusehends auf. Die Hausmusik hatte damals noch einen bedeutenden Stellenwert. Es scheint naheliegend, dass Helen Buchholtz ihre musikalischen Talente bei solchen geselligen Zusammenkünften unter Beweis stellte.
1910 starb der Vater. Sohn und Schwiegersohn übernahmen die Leitung der Brauerei, an der Helen Buchholtz bis zu ihrem Lebensende zu einem Viertel beteiligt war: „Helen Buchholtz verfügte stets über die Mittel zu ihrem eigenen Unterhalt und war immer unabhängig“, so François Ettinger. Diese finanzielle Absicherung machte aus der 33-jährigen Junggesellin von einem Tag auf den anderen eine unabhängige Frau, die eigene Entscheidungen – wie beispielsweise die, trotz widriger Umstände die Musik zum Zentrum ihres Lebens zu machen – treffen konnte. Am 2. April 1914 heiratete sie auf dem Standesamt in Metz den deutschen Arzt Bernhard Geiger (1854–1921) und zog mit ihm nach Wiesbaden. Dazu Ettinger: „Ihr Traum, in einer großen, mondänen Stadt zu leben, wurde Wirklichkeit. Wiesbaden, eine international bekannte Kurstadt, ein Kulturzentrum mit Oper, Theater, Konzertsälen … für Helen Buchholtz war es ein Geschenk. Die Musikliebhaberin genoss in vollen Zügen die künstlerische und musikalische Atmosphäre der Stadt …“ Ettinger zufolge hatte sie mit ihrem Ehemann vereinbart, kinderlos zu bleiben, um genügend Zeit zum Komponieren zu haben.
Kurz nach ihrer Ankunft in Deutschland brach der Erste Weltkrieg aus. Aus dieser Zeit sind sieben Postkarten eines regen Briefwechsels zwischen Helen Buchholtz und ihrem musikliebenden Schwager Ed Ettinger-Buchholtz erhalten. Kriegsgeschehen, Alltagsleben in Wiesbaden oder in Luxemburg unter der Besatzung, Krise, Lebensmittelknappheit und Inflation sind kein Thema der Karten, die im Wesentlichen von Musik handeln und vor allem Aufschluss geben über Buchholtz’ musikalisches Arbeiten und Studieren. Die Musikerin eignete sich ihre kompositorischen Kenntnisse offensichtlich zum Teil autodidaktisch an. Sie gehörte nicht zu jenen (immer noch seltenen) Frauen, die erstmals im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts in einem Konservatorium Komposition studierten. Sie arbeitete allerdings im Laufe ihres Lebens immer wieder mit verschiedenen Musikern. Zu ihnen gehörte Gustav Kahnt (1848–1923), ein gebürtiger Berliner und pensionierter Dirigent der luxemburgischen Militärmusik, der in Luxemburg-Stadt u.a. Kompositionsunterricht erteilte. Helen Buchholtz schickte Kahnt ihre Kompositionen von Wiesbaden nach Luxemburg. Der Lehrer sah sie durch und machte schriftliche Korrekturvorschläge. Im Allgemeinen beurteilte er die Werke als „ganz gut und wirklich wert, bekannt zu werden“. Die Komponistin beherzigte so manche Empfehlung, des Öfteren weigerte sie sich allerdings, die Rolle der lernwilligen Schülerin zu spielen, und notierte trocken am Rande der Korrektur „Autor wünscht weder A noch B“. Eine Endversion wurde schließlich erstellt und zur Drucklegung ins Heimatland geschickt: Im Verlag Felix Krein in Esch/Alzette publizierte sie fünf Lieder nach Texten von Lucien Koenig. Alle ihre Kompositionen veröffentlichte sie übrigens unter dem Namen Helen Buchholtz. Etwas später, aber undatiert, erschienen im Verlag A. Ernst Musikalienhandlung Wiesbaden die beiden Lieder Die rote Blume und Die alte Uhr sowie ein Ave Maria.
1921 starb Bernhard Geiger unerwartet. Es scheint so, als habe Helen Buchholtz diesen Verlust in Kompositionen verarbeitet, so manche ihrer Lieder kreisen um Tod, Verlust und Verlassenwerden. Da ihre Werke aber fast ausnahmslos undatiert sind, bleiben Zusammenhänge zwischen biographischen Ereignissen und ihrer Musik letztlich spekulativ. Nach Geigers Tod zog Buchholtz zurück in ihr Heimatland und erwarb eine kleine Villa in Luxemburg-Stadt auf dem Limpertsberg, einem wegen seiner Rosenzüchtereien bekannten, schönen Stadtviertel. „Nach der Heimkehr nach Luxemburg Anfang der zwanziger Jahre hat Helen Buchholtz sich der Luxemburger Gesellschaft zugewandt, und im Besonderen den Dichtern und Musikern, wie Batty Weber und Frau [die Schriftstellerin Emma Weber-Brugmann], Fernand Mertens etc. …“, erinnert sich François Ettinger.
1923 starb ihr Lehrer Gustav Kahnt. Helen Buchholtz setzte ihre Studien bei Jean-Pierre Beicht (1869–1925) fort, der in Luxemburg als Domorganist, Musik- und Gesangslehrer, Chorleiter und Komponist wirkte. Nach dessen Tod studierte sie bei Fernand Mertens (1872–1957), einem in Luxemburg ansässigen erfolgreichen Komponisten belgischer Nationalität. Mertens war damals Dirigent der luxemburgischen Militärmusik und unterrichtete am 1906 gegründeten hauptstädtischen Konservatorium Solfeggio, Tonsatz und Kontrapunkt. Nach ihrer Rückkehr in ihr Heimatland publizierte Buchholtz in den verbleibenden rund dreißig Jahren ihres Lebens insgesamt nur sechs weitere Kompositionen: zwei luxemburgische Lieder nach Texten von Willy Goergen, das Lied Do’deg Dierfer sowie drei Männerchöre in deutscher Sprache.
Helen Buchholtz starb, als Komponistin gänzlich verkannt, am 22. Oktober 1953, kurz vor ihrem sechsundsiebzigsten Geburtstag. Nach ihrem Tod rettete der Neffe François Ettinger die bereits in Säcke verpackten Partituren in letzter Minute vor dem Feuer und lagerte sie in zwei großen Koffern bei sich zu Hause, wo sie ihren Dornröschenschlaf schliefen. 1998 hatte ich das Glück, sie dort wiederzuentdecken. Sie sind heute im Archiv Helen Buchholtz im CID ǀ Fraen an Gender in Luxemburg der Öffentlichkeit zugänglich.

Discographie